Wenn dein Kind einen Wutanfall hat, kann es passieren, dass du selbst auch wütend wirst! Viele Eltern berichten uns in unserer Praxis von genau dieser Erfahrung. Wenn ein Kind in einem Wutanfall feststeckt und sich nicht beruhigen lässt, geraten viele Eltern selbst in einen Ausnahmezustand. Oft reagieren sie dann mit Wut oder sogar Schreien. Hinter dieser Reaktion stecken nicht selten Hilflosigkeit und Angst. Wut ist laut, impulsiv und kann auch zerstörerisch wirken – vor allem, wenn Dinge zu Bruch gehen oder jemand geschlagen, gebissen oder getreten wird. In solchen Momenten fällt es den meisten Eltern schwer, ruhig zu bleiben.
“Sei ein liebes Kind“
Aber warum ist das so? Wir wissen heute, dass Wut ein ganz normales Gefühl ist, das auf unserer emotionalen Skala genauso dazugehört wie Trauer, Freude oder Angst. Doch Wut lässt sich oft schwerer aushalten. Die meisten Erwachsenen haben in ihrer eigenen Kindheit gelernt, dass Wut etwas Unerwünschtes, „Böses“ ist. „Sei lieb!“ – dieser Satz ist vielen von uns noch gut bekannt. Ein „liebes Kind“ schreit nicht, gibt keine Widerworte und haut nicht. In vielen Familien wurde Wut noch mit Strafen belegt: „Wenn du dich nicht beruhigst, geh in dein Zimmer!“ Oder es gab andere Maßnahmen, wie ein schweigendes Abwenden der Mutter. Der unausgesprochene Vorwurf: „Wenn du so bist, macht mich das traurig – dann habe ich dich nicht mehr lieb.“ Für ein Kind ist dieser Zustand bedrohlich und verstörend. Gerade in solchen Momenten braucht es Eltern, die ihm helfen, mit seiner starken Wut umzugehen. Wird es jedoch verlassen, löst das Scham und Angst aus. Und bei vielen Erwachsenen bleibt dieses Gefühl hängen: „Wenn ich wütend bin, bin ich falsch.“ Scham und Schuld sind tief verwurzelte Gefühle, die uns oft ein Leben lang begleiten, selbst wenn wir im Kopf wissen, dass sie unbegründet sind.
Unser eigenes inneres Kind wird getriggert
Wenn nun das eigene Kind vor uns steht und einen Wutanfall bekommt, werden all diese alten Gefühle und Erinnerungen wach. In uns tobt das „innere Kind“, das früher nicht wütend sein durfte. Jetzt kommt es ans Tageslicht und schreit mit! „Wenn mein Kind das tut, tue ich das auch!“ Und schon stehen sich zwei „Kinder“ gegenüber: das Kind, das sich ärgert, und der Erwachsene, der in diesem Moment wie ein vierjähriges Kind handelt, das sich nicht mehr anschreien lassen will. Diese Dynamik ist nicht falsch, und Eltern sind deshalb nicht schuldig. Es ist, wie es ist. Es hilft jedoch sehr, Verantwortung für diese Reaktion zu übernehmen: „Das ist mein Film, mein Kind kann nichts dafür.“ Der erste Schritt besteht darin, sich selbst mit Verständnis zu begegnen, den eigenen wütenden Teil anzunehmen und sich nicht dafür zu verurteilen.
Manchmal ist es auch hilfreich, sich therapeutische Unterstützung zu holen und alte Verletzungen zu bearbeiten. Therapie kann ein Ort der Heilung und der neuen Erfahrungen sein.
Wut ist ein normales Gefühl
Wut ist eine vollkommen natürliche und menschliche Emotion, die gerade bei kleinen Kindern, aber auch bei größeren immer wieder auftritt. Ob beim Spielen, im Kindergarten oder zu Hause – Kinder erleben häufig Momente der Frustration, Enttäuschung oder Überforderung. Diese Emotionen äußern sich oft in Wutausbrüchen, die für Eltern eine echte Herausforderung darstellen können. Der dänische Familientherapeut und Autor Jesper Juul betont immer wieder, wie wichtig es ist, mit Wut respektvoll und einfühlsam umzugehen.
Was im Gehirn bei einem Wutanfall passiert
Doch was geschieht eigentlich im Gehirn eines Kindes während eines Wutanfalls, und wie können Eltern darauf reagieren, sodass die Kinder sich verstanden und unterstützt fühlen?
Um zu verstehen, warum Kinder in manchen Situationen scheinbar „ausflippen“, werfen wir einen Blick auf die neurologischen Prozesse im Gehirn:
– Die Amygdala: Diese Struktur im Gehirn spielt eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen. Wenn ein Kind wütend wird, wird die Amygdala aktiviert, was zu intensiven emotionalen Reaktionen führt.
– Der präfrontale Kortex: Dieser Teil des Gehirns ist für rationales Denken und Selbstkontrolle zuständig. Bei kleinen Kindern ist dieser Bereich noch nicht voll ausgereift, weshalb sie Schwierigkeiten haben, ihre Emotionen zu regulieren und häufig impulsiv reagieren.
– Stresshormone: Sobald die Amygdala aktiv wird, werden Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin freigesetzt, die den Körper in Alarmbereitschaft versetzen. Diese Hormone verstärken den „Fight, Flight oder Freeze“-Mechanismus und hindern das Kind daran, klare Gedanken zu fassen.
In früheren Zeiten war dieser Mechanismus überlebenswichtig – etwa wenn ein Säbelzahntiger vor einem stand. Kinder reagieren bei einem Wutanfall ähnlich, indem sie flüchten („Flight“), treten oder beißen („Fight“) oder sich zurückziehen („Freeze“).
Für ein kleines Kind ist ein Wutanfall also nicht nur emotional, sondern auch körperlich eine extreme Erfahrung. Es geht weniger darum, dass das Kind absichtlich wütend wird, sondern vielmehr darum, dass es noch nicht gelernt hat, seine starken Emotionen zu kontrollieren.
Co-Regulation statt Erziehung
In einem solchen Moment braucht das Kind keine Erziehung, sondern **Begleitung** – die sogenannte **Co-Regulation**. Es geht darum, dem Kind zu helfen, seine Emotionen zu regulieren, indem die Eltern selbst ruhig und einfühlsam reagieren.
– Grenzen setzen ohne zu bestrafen: Kinder müssen zunächst verstehen, dass ihre Gefühle legitim sind. Sätze wie: „Ich sehe, du bist sehr wütend. Das kann wirklich frustrierend sein“ vermitteln Empathie. Zugleich müssen klare Grenzen gesetzt werden, um destruktives Verhalten zu verhindern: „Stopp, das will ich nicht. Hör auf!“ Klare und kurze Ansagen kommen im Gehirn des Kindes an, lange Erklärungen jedoch nicht.
– Modellfunktion der Eltern: Kinder lernen vor allem durch Nachahmung. Wenn Eltern ihre eigenen Emotionen respektvoll und kontrolliert ausdrücken, lernen auch Kinder, ihre Wut konstruktiv zu kanalisieren.
Fazit: Wut als Chance zur Entwicklung
Wut ist ein Zeichen dafür, dass das Kind dabei ist, seine emotionalen Fähigkeiten zu entwickeln. Wenn Eltern mit Geduld, Verständnis und Respekt reagieren, können sie nicht nur die akute Situation beruhigen, sondern dem Kind auch helfen, wichtige Fähigkeiten zur Emotionsregulation zu erlernen. Jesper Juul fordert uns dazu auf, als Eltern mit Vertrauen und Empathie voranzugehen, damit unsere Kinder lernen, ihre Wut zu verstehen und konstruktiv mit ihr umzugehen.